Das dominante Paradigma der deutschen Politik ist seit dem von Francis Fukuyama ausgerufenen „Ende der Geschichte“ nach dem Fall der Mauer jenes der „Alternativlosigkeit“. Anfangs sorgte es für stabile gesellschaftliche Verhältnisse, inzwischen führt es zu einer ganzen Reihe an Problemen, von denen der Aufstieg der AfD und die Unfähigkeit, ernsthafte Kompromisse zu schließen, nur die offensichtlichsten sind.
Deutschland leidet unter einer chronischen Krankheit: der Alternativlosigkeit. Sie äußert sich in einem Politikstil, der Entscheidungen nicht in öffentlichen Debatten aushandelt, sondern – im Stile einer Predigt – verkündet. Widerspruch ist nicht vorgesehen. Es gibt ja ohnehin keine andere Wahl als das, was nach reiflicher Überlegung in nicht-öffentlichen Runden wie Koalitionsausschüssen oder Ministerpräsidentenkonferenzen ausgearbeitet wurde. Und wie das so ist bei chronischen Krankheiten, nimmt man ihre grundlegenden Symptome mit der Zeit kaum mehr wahr und merkt erst dann wieder auf, wenn der eigene Zustand sich verschlechtert. So wie jüngst, als die „Ampel“-Koalition aus SPD, Grünen und FDP zerbrach.
Es ist keine übertriebene Diagnose, dem Land gleich mehrere Entzündungsherde zu bescheinigen: die Infrastruktur ist marode, die Wirtschaft stottert, die Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten wird dazu führen, dass Deutschland und Europa mehr Verantwortung in der Weltpolitik übernehmen müssen, etwa, wenn es um die Unterstützung der Ukraine geht.
Wie kommt es, dass die Politik diese vielen drängenden Probleme nicht bearbeitet? Wieso macht sie es nicht – einfach gesagt – anders? Die Antwort ist: Sie kann es nicht. Denn dafür müsste sie genau jene Strategie aufgeben, die seit mehr als zwei Jahrzehnten zur Wahrung stabiler gesellschaftlicher Verhältnisse genutzt wird. Unter dem Deckmantel des Pragmatismus greifen Politiker auf einen rhetorischen Kniff zurück, der Endgültigkeit simuliert: „Diese Entscheidung ist alternativlos“. Damit wird von vornherein suggeriert, dass eine bestimmte politische Entscheidung schlichtweg keine andere Handlungsoption dulde. Was die Politik als Lösung für ein identifiziertes Problem anbietet, wird in dieser Weise öffentlich als der einzig gangbare Weg verkauft.
In Deutschland lässt sich dieser Politikstil bis in das Jahr des Mauerfalls zurückverfolgen. Francis Fukuyamas Überzeugung von einem „Ende der Geschichte“ schien sich in diesem grundstürzenden Ereignis zu manifestieren. Die Alternative zum westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem hatte sich erschöpft und ging unter. Diese Erfahrung wirkte sich nachhaltig auf die deutsche Politik aus. Ein Beispiel: Im Zuge der Wiedervereinigung wurde die ostdeutsche Wirtschaft von außen transformiert. Zwar wurde die Liberalisierung des ehemals sozialistischen Staates nicht ganz so brachial durchgeführt wie die etwa ein Jahrzehnt vorher unternommenen Wirtschaftsreformen in Großbritannien (Margaret Thatcher: „There is no alternative“), dennoch machte das Wort „Schocktherapie“ schnell die Runde. Eine ernsthafte Debatte über potenzielle Alternativen zu den Reformen fand nicht statt – was besonders damit zu begründen ist, dass die Euphorie im Zuge der Wiedervereinigung (Stichwort: „Blühende Landschaften“) sich noch nicht gelegt hatte und die Wirtschaft der ehemaligen DDR kurz vor dem Kollaps stand.
Auch in Wahlkämpfen ist das Prinzip der Alternativlosigkeit ein beliebtes Mittel. Beispielsweise setzte die CDU unter Angela Merkel mit großem Erfolg auf eine „asymmetrische Demobilisierung“, also die Vermeidung kontroverser Aussagen, um potenzielle Wähler einzulullen. Am Ende erschien Merkel den meisten als einzig logische Alternative. Und jene, die das nicht so sahen, gingen entmutigt einfach nicht wählen, vergrößerten damit also relativ den Stimmenanteil der CDU. Olaf Scholz versuchte es bei der letzten Bundestagswahl mit einem ähnlichen Muster. Er inszenierte sich als eine Art „männliche Merkel“, machte kaum umstrittene Äußerungen, sondern perfektionierte die Strategie des Redens-ohne-etwas-zu-sagen. Er verkörperte in instabilen Zeiten ein „Weiter so“, dass Annalena Baerbock und Armin Laschet abging. Dass Scholz‘ Wahlkampfstrategie aufging, verdankte er neben seiner Inszenierung dann jedoch nicht zuletzt den Patzern seiner Konkurrenten, die ihn wie die einzig wählbare Alternative aussehen ließen.
Mentalitätsgeschichtlich lässt sich der langfristige politische Erfolg dieser Strategie der Alternativlosigkeit nur damit erklären, dass sich mit der Wiedervereinigung und Gründung der Europäischen Union zwei der größten politischen Visionen Deutschlands restlos verwirklicht hatten. Mit der DDR verschwand die sozialistische Alternative zum marktwirtschaftlich orientierten Westen, und die EU verzahnte die europäischen Staaten nach und nach so eng miteinander, dass sich ein Austritt mittlerweile weder wirtschaftlich lohnen würde, noch politisch rechtfertigen ließe. Diese grundlegende Erfahrung ist uns allen so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass die Vorstellung einer Alternative zur herrschenden Realität für eine lange Zeit kaum vorstellbar war. Allein in dieser Tatsache zeigt sich die brutale Dominanz der Alternativlosigkeit.
Doch jede Dominanz wird einmal herausgefordert. Der Glauben an die Alternativlosigkeit des politischen Handelns bröckelte in jenem Moment, als sich der Fokus von innergesellschaftlichen Debatten auf äußere Herausforderungen verschob. In immer kürzeren Abständen sollte die deutsche Politik Lösungen für die globale Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, die Corona-Pandemie und den Ukrainekrieg präsentieren. Das gelang zunehmend schlechter. Als Konsequenz suchten Wähler nach Alternativen zum vermeintlich alternativlosen Handeln der Politik.
Am klarsten lässt sich das anhand der AfD illustrieren, die das Wort „Alternative“ bereits im Namen trägt und sich seit ihrer Gründung im Jahr 2013 als radikale Opposition zum Status Quo inszeniert. Der Gründungsimpuls der AfD erfolgte aus Unzufriedenheit mit dem Euro-Rettungskurs der Bundesregierung. Auch, wenn sie damit bloß wenige Wähler überzeugen konnte: Ihre Inszenierung als „Alternative“ zum gegenwärtigen Zustand begründete ihre späteren Erfolge – wie zuletzt bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg.
Schneller als andere Parteien konnte die AfD sich an politische Veränderungen anpassen und beispielsweise die sich drehende Stimmung gegenüber Flüchtlingen Ende 2015 dazu nutzen, eine radikal migrationsfeindliche Politik als Lösung zu präsentieren. Ähnlich ging sie während der Corona-Pandemie vor, in der sie der Bundesregierung wenige Tage vor dem ersten Lockdown vorwarf, ihr Nichtstun gefährde „Leib und Leben der Menschen“, um nur wenige Monate später von einer „Corona-Diktatur“ zu sprechen, die schwere wirtschaftliche Schäden anrichten und die Menschen gängeln würde.
Gesellschaftlich hat das Erstarken der AfD dazu geführt, neue Konflikte zu entzünden und zugleich alte wieder aufzubrechen. Zu nennen wären etwa die Meta-Debatte über die Frage, ob die Wiedervereinigung insgesamt als Erfolg zu werten sei, die Frage, wie das Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft für alle Teile der Bevölkerung funktionieren könnte oder jene, wie Deutschland sich außenpolitisch in den großen Konflikten der Welt positionieren sollte. Der AfD fällt es auch deshalb so leicht, sich stets als die einzige Partei mit einer anderen Meinung zu positionieren, weil die demokratischen Parteien verlernt haben, politische Auseinandersetzungen nicht bloß zu simulieren, sondern sie substantiell zu führen; eine Konsequenz des anfänglichen Erfolgs des Konzepts der Alternativlosigkeit, dass sich bis heute in der Politik hält wie das Beispiel der Wahlkampfstrategie von Olaf Scholz oder der Vorentwurf zur Novellierung des Gebäudeenergiegesetzes 2023 gezeigt hat, welcher als Heizsystem der Zukunft kaum Alternativen zur Wärmepumpe vorsah.
Je länger die demokratischen Parteien des Landes bewusst oder unbewusst an der Rhetorik festhalten, ihr politisches Handeln sei alternativlos, desto wahrscheinlicher wird es, dass die AfD mittelfristig die politische Agenda diktiert, weil sie den unbesetzten Raum der politischen „Alternative“ eingenommen hat. Von dort aus kann sie nach der Methode Trump agieren: Egal, wie wenig praktikabel oder skandalös ein Vorschlag aus ihren Reihen ist – es wird darüber geredet.
Mit dieser Taktik hat die AfD die demokratischen Parteien in die Defensive gedrängt. Alle müssen sich plötzlich an ihren Vorschlägen abarbeiten, was gegenwärtig etwa auf dem Feld der Migrationspolitik augenfällig ist.
Dabei gäbe es für die demokratischen Parteien so viel zu tun! Der Umbau des Landes in ein grünes Industrieland, der Umgang mit Künstlicher Intelligenz als neuste Spielart der Digitalisierung oder die Modernisierung der Deutschen Bahn sind nur einige Felder, auf denen neue Vorschläge willkommen wären. Die ehemalige „Ampel“-Koalition hatte mit ihrem Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ in dieser Hinsicht viele Hoffnungen geweckt.
Doch bedauerlicherweise zeigt sich das lange dominante Prinzip der Alternativlosigkeit in einem neuen Gewand. Nun, da es durch die beschriebenen exogenen Schocks an gesellschaftsbefriedender Kraft verloren hat, wird es selbst zum Spaltpilz. Statt als politisches Leitprinzip zu verschwinden, hat die Alternativlosigkeit nun die einzelnen Parteien fest im Griff. Sie ist einer der Gründe, welcher die „Ampel“-Koalition aus SPD, Grünen und FDP zerrissen hat. Die drei ehemaligen Partner hatten sich auf Basis ihrer jeweiligen Überzeugungen oder Ideologien so sehr ineinander verbissen, dass einmal verkündete Einigungen schnell wieder aufgerollt oder „nachverhandelt“ werden mussten. Nach fast drei Jahren Gezerre ist dieses Dreierbündnis nun am Ende.
In all seiner Tragik birgt dieser Umstand eine interessante Erkenntnis: Die AfD wirft den „etablierten Parteien“ seit Jahren Ununterscheidbarkeit vor; dabei ließen sich SPD, Grüne und FDP während ihrer Regierungszeit so deutlich voneinander differenzieren, wie wohl kaum ein Koalitionsbündnis zuvor. Die wahre Schwäche der drei Parteien sowie der demokratischen Opposition war und ist ihre Unfähigkeit zu überzeugenden Kompromissen – auch, wenn Olaf Scholz in seiner Rede zum Koalitionsbruch immer wieder ihre Bedeutung hervorgehoben hat.
Kompromisse sind komplexer, als das Zuschütten von Konflikten oder ideologischen Bruchlinien mit Geld, welches vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Umwidmung der Corona-Hilfen in den Klima-und-Transformations-Fonds Ende vergangenen Jahres reichlich vorhanden schien. Sie setzen die Anerkennung einer Alternative zu den eigenen Glaubenssätzen voraus.
Doch diese Fähigkeit schwindet in der deutschen Politik zunehmend. Das war bei der Wahlrechtsreform, die die Ampel ohne die Union durchboxte, ebenso zu erkennen, wie bei der Ankündigung von Friedrich Merz, bestimmte Entscheidungen der Ampelregierung einfach wieder „zurückzudrehen“, wenn er gewählt würde. Eine restaurative Stimmung hat das Land erfasst.
Das hat Konsequenzen: Je länger die demokratischen Parteien der Mitte verstockt in ihren je alternativen Alternativlosigkeiten verweilen, politische Kompromisse dadurch verunmöglichen und folglich immer mehr Wähler vergrätzen, desto beharrlicher kann die AfD an ihrer Legende stricken, sie sei die wirkliche „Alternative“ für das Land. Eine Alternative, die sich niemand wünschen kann.