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Dieser Blog ist ein persönlicher Streifzug durch unsere Medien- und Kulturlandschaft. So entstehen Kommentare, Essays und Kritiken sowie Interviews mit Intellektuellen und Kreativen, die wirklich etwas zu sagen haben. Wagen wir’s!

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Essay: Wider die Untergangsszenarien.

29. Dezember 202429. Dezember 2024

Demokratien sind weltweit in Gefahr. Das scheinen die Erfolge rechter Parteien in Europa und jene Donald Trumps in den USA zu belegen. Doch es gibt Hoffnung.

Auf jede Demokratisierungswelle folgt eine Gegenbewegung. Diese Warnung hat Samuel Huntington bereits 1991 ausgesprochen. Doch im allgemeinen Jubelsturm über das reichlich voreilig ausgerufene „Ende der Geschichte“ verhallte dieser Kassandraruf ungehört. Nun, mehr als dreißig Jahre später, scheint sich Huntingtons – aus historischen Analysen abgeleitete These – zu bewahrheiten. Und plötzlich ist aus Kassandra einer jener Engel geworden, der in der Offenbarung des Johannes die Apokalypse ankündigt. Es gibt Gründe genug dafür, den Untergang herbeizureden: Bei der Europawahl im Juni 2024 verzeichneten rechte bis rechtsextreme Parteien in diversen Ländern – darunter Österreich, Frankreich, Italien oder Deutschland – große Zuwächse in der Gunst der Wähler. In Frankreich rief Präsident Emmanuel Macron daraufhin Neuwahlen des Parlaments aus und hätte um ein Haar dafür gesorgt, dass Marine Le Pens rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) diese für sich entscheidet. Die erste Runde gewann die Partei mit 29,3 Prozent der Stimmen, bevor sie in der Stichwahl doch noch von einem Linksbündnis und Macrons Partei gestoppt wurde. Seitdem jedoch befindet sich Frankreich in einer veritablen Regierungskrise. Der von Macron im September eingesetzte Premierminister Michel Barnier verlor sein Amt im Dezember bereits wieder. Er wurde in einem von rechtsextremen und linken Kräften gestützten Misstrauensvotum abgewählt.

In den USA herrschte spätestens seit dem bemitleidenswerten Auftritt des US-Präsidenten Joe Biden gegen seinen Konkurrenten Donald Trump beim ersten TV-Duell Ende Juni blanke Panik in den Reihen der US-Demokraten. Die Frage, ob der Präsident noch fähig sei, den diabolischen Trump ein weiteres Mal zu schlagen, beherrschte wochenlang die Schlagzeilen, bis Biden doch noch den Weg für Kamala Harris freimachte, die mit einer riesigen Euphorie in den Wahlkampf starte und Donald Trump am Ende doch deutlich unterlag. Als wäre das alles nicht verdrießlich genug, entschied der Obersten Gerichtshofs am 1. Juli, dass der US-Präsident für Tätigkeiten während seiner Amtszeit weitgehende Immunität genieße. Ob Donald Trump wegen seiner aufrührerischen Rolle beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 juristisch belangt werden kann, erscheint unklarer als je zuvor – der Prozess wird nun, da er als President Elect fungiert, ausgesetzt. Täglich wächst die Sorge, dass Trump seine Drohung am ersten Tag einer potenziellen zweiten Amtszeit als „Diktator“ zu regieren, wahr machen könnte – unterstützt etwa vom reichsten Mann der Welt, Elon Musk, der seit Dezember auch im vorgezogenen deutschen Wahlkampf mitmischt und offen mit der AfD sympathisiert.

Die Gefahren für Demokratien weltweit sind also real. Überall breiten sich Parteien aus, die die nach dem Zweiten Weltkrieg eingeübten Spielregeln eines demokratischen Systems nicht mehr akzeptieren wollen. Dennoch wäre es nicht ratsam, diese Staatsform jetzt schon als unrettbar verloren zu betrachten, wie es viele Kommentatoren in zunehmend dystopischen Tönen tun. Es gibt in der wissenschaftlichen Forschung sogar langläufige Trends, die dabei helfen können, den Katastrophismus unserer Tage zu lindern.

Eines dieser Forschungsprojekte ist die World Values Survey (WVS), 1981 zunächst als European Values Survey gestartet, die in inzwischen sieben Wellen den Wertewandel innerhalb von Gesellschaften im Längsschnitt untersucht hat. Zentraler Ausgangspunkt des Projekts waren die Arbeiten des amerikanischen Politikwissenschaftlers Ronald Inglehart, der sich mit seinem Buch The Silent Revolution von 1977 daran machte, der zu jener Zeit in der Politologie gängigen Modernisierungsthese einen kulturellen Dreh zu verpassen. Die ursprüngliche Modernisierungsthese besagt im Kern, dass ein enger Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes und seiner Demokratisierung bestehe: Je besser es einer Nation gehe, desto stabiler sei dessen Demokratie.

Inglehart und sein späterer Co-Autor Christian Welzel, Professor für politische Kulturforschung an der Leuphana Universität in Lüneburg, halten an dieser These fest, erzählen die Geschichte der Modernisierung allerdings mehrstufig. Statt eine direkte Linie zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes und seiner (potenziellen) Demokratisierung anzunehmen, fokussieren sie auf den Einfluss der sozioökonomischen Entwicklung auf die Wertorientierung von Individuen. Je höher das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft sei, desto mehr verlagerten sich Werte von materiellen hin zu postmateriellen, argumentieren sie. Dieser Trend sei in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur in den entwickelten Ländern des Westens zu sehen gewesen, sondern als globaler Trend beobachtbar.

Die Autoren clustern ihre Untersuchungen in zwei übergeordnete Werte-Kategorien. Da sind zum einen die sogenannten „traditionellen“ gegenüber den „säkularen Werten“. Diese unterscheiden sich in der Betonung der Bedeutung von Religion oder der Zustimmung beziehungsweise Ablehnung zu Scheidungen oder Abtreibungen. Zum anderen differenzieren Inglehart und Welzel zwischen „Überlebenswerten“, ökonomische oder physische Sicherheit etwa, und „Selbstausdruckswerten“. Hier nennen sie zum Beispiel Nachhaltigkeitsbewusstsein, Toleranz oder das Verlangen nach politischer und ökonomischer Mitbestimmung. Vereinfacht lässt sich sagen: Je mehr in einer Gesellschaft Selbstausdrucks- und säkulare Werte betont werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich in ihr eine Demokratie entwickelt oder diese stabil bleibt.

Selbstverständlich muss bei der Analyse des Wertewandels zwischen einer individuellen und einer gesamtgesellschaftlichen Ebene unterschieden werden. Für beide Arten gilt jedoch, dass Werte nach dem Soziologen Helmut Klages als „innere Führungsgrößen des menschlichen Tuns und Lassens“ definiert werden können, die „überall dort wirksam werden, wo nicht biologische ‚Triebe‘, Zwänge, oder ‚rationale‘ Nutzenerwägungen den Ausschlag geben“. Im Gegensatz zu persönlichen Einstellungen, die im Verlauf eines Lebens schwanken können, sind Werte relativ stabil. Daher vollzieht sich ihr Wandel schleichend, aber kontinuierlich. Die gesamtgesellschaftliche Perspektive lässt sich am Beispiel der Möglichkeit zu einer gleichgeschlechtlichen Eheschließung gut illustrieren. Der erste Staat, der diese weltweit erlaubte, waren die Niederlande im Jahr 2001. In den Jahren darauf folgten in immer kürzeren Abständen insgesamt 37 Staaten (darunter Großbritannien, die USA und Deutschland), in denen diese mittlerweile legal ist. Innerhalb von 25 Jahren hat also ein Fünftel der Staaten weltweit einen Schritt in Richtung Toleranz gemacht und damit nach Inglehart und Welzel den Fokus von einem Überlebens- hin zu einem Selbstausdruckswert verschoben. Entscheidend für diesen Wandel waren zunächst Aktivisten oder Interessenvertretungen, die ihre individuellen Überzeugungen in Form von Petitionen, Protesten oder anderweitigen Meinungsäußerungen in die Öffentlichkeit trugen. Erst in einem zweiten Schritt wurden diese Aktionen mehrheitsfähig und etablierten sich schlussendlich in Form von Gesetzgebungsverfahren. Im Moment ihrer Kodifizierung können sie als ein zumindest grundsätzlich geteilter Wert einer Gesellschaft gedeutet werden.

Studien wie die WVS sind wohltuende Argumente wider die Untergangsszenarien, die sich vor allem in westlichen Demokratien breitgemacht haben, da sie als langfristige Forschungsprojekte unerbittlich gegenüber der Volatilität des Alltäglichen sind.

Sie öffnen den Blick für die eigene Verantwortung, die sowohl die Politik als auch eine Gesellschaft für das Fortbestehen von Demokratien tragen. Derzeitige Analysen sehen die Bedrohung der Demokratie fast ausschließlich als exogenen Schock: Populisten und ihre Parteien werden zumeist als von außen auf ein funktionierendes System einwirkende Bedrohungen gerahmt. Dabei sind diese Figuren fast immer Teil der jeweiligen Gesellschaft und damit auch ihre Ausgeburten. Der Unterschied zu allen übrigen Mitgliedern ist jedoch, dass sie die bis dato gültigen Spielregeln der jeweiligen Demokratien nicht mehr akzeptieren und diese mit ihren eigenen Mitteln zur Strecke bringen wollen. Noch bevor Populisten Institutionen wie Medien, Verfassungsgerichte oder demokratische Wahlen verächtlich machen, aushöhlen und schließlich zerstören, rekurrieren sie gerne auf die „wahren Werte“ des betreffenden Landes. Damit zwingen sie einer Gesellschaft gewissermaßen eine antagonistische Debatte auf. Für sie gibt es „unsere“ Werte und jene, der „Anderen“. Demokraten können eine solche Debatte nur verlieren, da sie – im Gegensatz zu den Verächtern der Demokratie – Anstand kennen. Wenn Politik im Sinne Carl Schmitts als Kampf begriffen wird, ist es ein Kampf mit ungleichen Mitteln, da Demokraten sich an Regeln halten, an die ihre Gegner sich nicht mehr gebunden fühlen.

Daher ist es falsch, wenn jetzt allerorten die Forderung erhoben wird, die Demokratie müsse „verteidigt“ werden. Es wird vielmehr darum gehen, Kampfsituationen zu vermeiden.

Das gelingt, wenn man sich die Erkenntnisse der WVS zu Nutze macht. Danach wirkt sich die Steigerung von säkularen Werten und Selbstausdruckswerten grundsätzlich stabilisierend auf Demokratien aus. Es muss daher allen Demokraten weltweit darum gehen, diese Entwicklung voranzutreiben. Statt sich also auf einen Kulturkampf mit den Populisten über die „wahren Werte“ einzulassen, sollten Demokratien für eine tragfähige wirtschaftliche Entwicklung sorgen, die allen Bürgern zu Gute kommt, da diese gemäß der Modernisierungsthese als Motor des Wertewandels gesehen wird. Wenn dies gelingt, entgleitet die Debatte den Populisten und der Engel der Apokalypse kann sich wieder verziehen.

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